10. Januar 2025 1. Timotheus 1,12-17

Fail. Grace. Repeat. - 3. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Geschwister, Kennen Sie den Film “Edge of Tomorrow”? Tom Cruise spielt einen Soldaten, der immer wieder denselben Tag erlebt. “Life. Die. Repeat.” - Leben, Sterben, Wiederholen. Jedes Mal, wenn er stirbt, fängt er wieder von vorne an. Solange, bis er es schafft, die Menschheit zu retten. “Fail. Grace. Repeat.” - Das ist die christliche Version davon. Nur dass wir nicht die Menschheit retten müssen. Wir dürfen einfach leben. So gut es eben geht. Ohne den Druck, perfekt zu sein.

Das Scheitern - radikaler als wir denken

Ich bin zweimal sitzen geblieben. Das war für mich damals das Ende der Welt. Aber seien wir ehrlich: Das ist noch harmlos verglichen mit dem, was Menschen wirklich kaputtmachen können. Ich denke an eine Freund, der mir erzählte: “Ich war 20 Jahre alkoholkrank. Ich habe meine Familie zerstört. Meine Frau ist gegangen, meine Kinder wollen nichts mehr von mir wissen. Ich habe alles verloren.” Das ist Scheitern in einer anderen Liga. Oder die Frau, die sagte: “Ich habe meine beste Freundin hintergangen. Habe ihren Mann verführt. Aus Eifersucht, aus Rache. Jetzt ist ihre Ehe kaputt und unsere Freundschaft auch.” Oder der Teenager, der gesteht: “Ich habe Nacktbilder meiner Ex-Freundin verschickt. An die ganze Schule. Ich wollte ihr wehtun. Jetzt wechselt sie die Schule.” Das ist nicht mehr “ein bisschen daneben”. Das ist Zerstörung. Das ist das, was Paulus meint, wenn er sich “Gewalttäter” nennt. Er hat Menschen ins Gefängnis gebracht. Familien zerstört. Manche sind gestorben. Und trotzdem - oder gerade deshalb - schreibt er: “Mir ist Barmherzigkeit widerfahren.”

Die Gnade - ohne Vorbedingungen

Hier kommt die entscheidende Frage: Was ist die Voraussetzung für Gnade? Muss man bereuen? Muss man sich ändern? Muss man versprechen, dass es nie wieder passiert? Die Antwort des Paulus ist radikal: Nein. “Mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan.” Nicht weil er bereut hat. Nicht weil er es gut gemeint hat. Sondern obwohl er es falsch gemacht hat. Die Gnade kommt zuerst. Sie ist nicht die Belohnung für Einsicht, sondern der Grund für Veränderung. Das ist das Skandalon des Christentums: Gott liebt uns nicht, weil wir gut sind. Er liebt uns, damit wir gut werden können. Der Alkoholiker bekommt nicht Gnade, weil er aufhört zu trinken. Er kann aufhören zu trinken, weil er Gnade bekommt. Die Frau bekommt nicht Vergebung, weil sie ihre Freundschaft rettet. Sie kann ihre Freundschaft retten, weil sie Vergebung bekommt. Der Teenager bekommt nicht eine zweite Chance, weil er sich entschuldigt. Er kann sich entschuldigen, weil er eine zweite Chance bekommt.

Das Wiederholen - ohne Erfolgsdruck

Und dann kommt das “Wiederholen”. Nicht wie in dem Film, wo Tom Cruise so lange wiederholen muss, bis er es perfekt macht. Sondern das Wiederholen des Lebens selbst. Das normale, unperfekte, menschliche Leben. Und das heißt auch, in aller Radikalität, wir können wieder scheitern. Immer wieder. Wissen Sie, was mich an sozialen Medien so wütend macht? Ich weiß, wie diese Bilder entstehen. Instagram, TikTok, Facebook - das ist alles fake. Die perfekte Familie im Urlaub? Der hat 200 Fotos gemacht, bis eins passte. Die strahlende Influencerin? Photoshop und Filter. Der erfolgreiche Unternehmer? Zeigt nur die Erfolge, nie die Niederlagen. Und unsere Jugendlichen, wie Fiete, Ella und Yannick es mal werden, sitzen da und denken: “Alle anderen sind glücklicher als ich. Alle anderen sind erfolgreicher. Alle anderen haben ihr Leben im Griff.” Glaubt den Bildern nicht! Das Leben ist nicht Instagram. Das Leben ist: scheitern, gnade, weitermachen. Jeden Tag neu.

Die Anthropologie des Scheiterns

“Scheitern” ist keine Panne im System. Es ist das System. Es gehört zum Menschsein dazu wie Atmen. Ich kenne Paare, die sich nach 30 Jahren Ehe scheiden lassen. “Wir haben versagt”, sagen sie. Nein, haben sie nicht. Sie haben 30 Jahre versucht. Das ist schon mehr, als die meisten schaffen. Ich kenne Eltern, die sagen: “Unser Sohn ist drogensüchtig. Wir haben als Eltern versagt.” Nein, haben sie nicht. Sie haben ein Kind großgezogen, das seinen eigenen Weg gehen muss. Auch wenn der Weg durch die Hölle führt. Ich kenne Geschäftsleute, die pleite gegangen sind, etwa mein eigener Vater. “Ich habe 50 Arbeitsplätze vernichtet”, sagt er. Ja, hat er. Und das tut weh. Aber er hat auch mal 50 Arbeitsplätze geschaffen. Er hat es versucht. Das ist die menschliche Kondition (Die conditio humana). Wir versuchen etwas, und manchmal geht es schief. Das macht uns nicht zu Versagern. Das macht uns zu Menschen.

Fiete, Ella, Oskar - Namen der Hoffnung

Heute taufen wir drei Kinder. Drei Namen, die für drei verschiedene Wege stehen werden. Fiete - “der Friedenstifter”. Du wirst lernen, dass Frieden nicht bedeutet, dass nie gestritten wird. Frieden bedeutet, dass nach dem Streit wieder Versöhnung kommt. Ella - “die Strahlende”. Dein Licht wird manchmal flackern. Manchmal wirst du den Glauben an dich selbst verlieren. Aber das Licht geht nie ganz aus. Oskar - “Gottes Speer”. Ein Speer ist kein sanftes Werkzeug. Er durchbohrt. Er trifft. Du wirst andere treffen – manchmal im Zorn, manchmal aus Angst, manchmal aus Versehen. Du wirst Schaden anrichten, auch wenn du es nicht willst. Aber: Du bist nicht irgendein Speer. Du bist Gottes Speer. Nicht gemacht, um zu zerstören – sondern um zu durchdringen, was falsch ist. Um Wahrheit zu wagen. Um dich durch Schuld und Scham hindurchzukämpfen zum Licht. Alle drei werden scheitern. Garantiert. Sie werden Dinge kaputt machen. Sich und andere verletzen. Träume zerbrechen lassen. Und alle drei werden Gnade erfahren. Die Gnade, wieder aufstehen zu dürfen. Die Gnade, es nochmal zu versuchen. Die Gnade, geliebt zu sein, auch wenn sie versagen. Herausforderung für heute

Diese Theologie des “Scheitern. Gnade. Wiederholen.” stellt eine grundlegende Herausforderung für unsere Zeit dar. Sie widersteht der neoliberalen Logik der Selbstverantwortung genauso wie der therapeutischen Fixierung auf Heilung und Selbstoptimierung. Wenn Scheitern nicht mehr als individuelles Versagen, sondern als gemeinsame menschliche Erfahrung verstanden wird, entstehen Solidarität statt Konkurrenz. Wenn Gnade nicht verdient werden muss, sondern geschenkt wird, stellt das unsere Leistungsgesellschaft in Frage. “Scheitern. Gnade. Wiederholen.” - Das ist die Grundlage meiner Theologie und Anthropologie. Das ist meine persönliche Glaubenshaltung. Eine Anthropologie der Hoffnung. Ein Manifest gegen die Tyrannei der Perfektion.

Die gute Nachricht

Du musst nicht warten, bis du besser bist. Du musst nicht warten, bis du reif genug bist. Du musst nicht warten, bis du es verdient hast. Das ist nicht nur Paulus’ Geschichte. Das ist die Geschichte von uns allen. Die Geschichte von Fiete, Ella und Yannick. Und die Geschichte Gottes mit einer Welt, die er nicht aufgibt. Die Gnade ist da. Jetzt. Für dich. So wie du bist. Auch wenn wir ihn enttäuschen. Auch wenn wir versagen. Auch wenn wir alles kaputtmachen. Gott fängt wieder neu an. Mit uns. Jeden Tag.

Und das “Wiederholen”? Das ist nicht die Strafe, sondern das Geschenk. Du darfst es nochmal versuchen. Ohne Erfolgsgarantie. Aber mit der Gewissheit, dass du geliebt bist. Egal was passiert.

Amen.