Jenseits der Mauer - Judika
Liebe Schwestern und Brüder,
Jerusalem zur Zeit des Passafestes. Menschen strömen in die Stadt, Pilger aus aller Welt kommen zusammen. Ein Fest der Befreiung steht bevor, ein Fest der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Die ganze Stadt ist in Bewegung. Und mitten in dieser festlichen Stimmung - ein Prozess. Hinter verschlossenen Türen. Zwischen Mauern.
“Sie führten Jesus von Kaiphas zum Prätorium. Es war früh am Morgen. Und sie selbst gingen nicht hinein in das Prätorium, damit sie nicht unrein würden, sondern das Passamahl essen könnten.”
So beginnt unser Predigttext. Sie - das sind die religiösen Führer, die Jesus gefangen genommen haben. Menschen, die sehr genau darauf achten, keine Grenze zu überschreiten. Eine unsichtbare Mauer trennt den heiligen Bereich vom unheiligen, den jüdischen vom römischen, den reinen vom unreinen. Keine zehn Pferde würden sie in das Haus eines Heiden bringen - eines “Unreinen”. Sie bleiben draußen.
Und so entsteht ein seltsames Hin und Her in dieser Geschichte. Pilatus pendelt zwischen drinnen und draußen. Zwischen Jesus, der gefangen ist, und den Anklägern, die draußen warten. Ein mühsames Gehen zwischen den Welten.
Mauern - sie strukturieren unser Leben. Und ich meine nicht nur die aus Stein. Mauern aus Worten, aus Gesten, aus Blicken. Mauern aus Vorurteilen, aus Traditionen, aus Ängsten. Mauern zwischen uns Menschen.
Pilatus geht hin und her zwischen drinnen und draußen, zwischen Jesus und den Anklägern. Und dann stellt er Jesus die entscheidende Frage: “Bist du der König der Juden?”
Es ist eine politische Frage. Eine gefährliche Frage. Wer sich als König bezeichnet, stellt sich gegen den Kaiser in Rom. Wer sich als Messias bezeichnet, stellt sich in eine lange jüdische Tradition des Widerstands gegen Fremdherrschaft. Hochverrat, Aufstand, Rebellion - das steckt zwischen den Zeilen dieser Frage. Eine Frage, zwei Vergehen in zwei Welten. Auf beiden Seiten der Mauer.
Aber Jesus antwortet nicht einfach. Er fragt zurück: “Sagst du das von dir selbst aus, oder haben andere dir das über mich gesagt?”
Eine seltsame Gegenfrage. Kein klares Ja oder Nein. Stattdessen will Jesus wissen, von wo diese Frage kommt. Ob sie aus Pilatus selbst kommt oder ob er nur nachspricht, was andere ihm eingeredet haben. Das ist typisch für Jesus. Er interessiert sich dafür, was uns bewegt. Was uns umtreibt. Was hinter unseren Worten steckt.
Pilatus, leicht gereizt, weist die Frage zurück: “Bin ich etwa ein Jude? Dein Volk und die Hohepriester haben dich mir ausgeliefert. Was hast du getan?”
Und dann spricht Jesus die Worte, die alles verändern: “Mein Reich ist nicht von dieser Welt.”
Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Ein Satz wie eine Tür in einer Mauer. Ein Satz, der eine andere Wirklichkeit aufschließt. Ein Satz, der den Blick öffnet auf etwas, das jenseits der Mauern liegt.
Was meint Jesus damit? Meint er ein spirituelles Reich im Jenseits? Eine rein geistige Wirklichkeit abseits der greifbaren Welt? Ich glaube nicht. Denn Jesus wurde sehr konkret. Er heilte Menschen, er speiste Hungrige, er berührte Aussätzige. Er kümmerte sich um die, die am Rande standen. Das alles war höchst real, höchst diesseitig.
“Mein Reich ist nicht von dieser Welt” heißt nicht: Mein Reich existiert nur im Himmel. Es heißt: Mein Reich funktioniert anders als die Reiche, die ihr kennt. In meinem Reich geht es nicht um Macht über andere, sondern um Dienst für andere. In meinem Reich geht es nicht um Mauern, die trennen, sondern um Brücken, die verbinden. In meinem Reich geht es nicht darum, sich abzugrenzen, sondern darum, einzuladen.
Wir stehen in der Passionszeit. In diesen Wochen gehen wir mit Jesus seinen Weg zum Kreuz. Wir erinnern uns an sein Leiden, an seine Einsamkeit, an seine Angst. Wir erinnern uns aber auch an seine Entschlossenheit, an seine Liebe, an sein Vertrauen. Und vor allem erinnern wir uns daran, dass Jesus die tiefste Mauer durchbrochen hat, die es gibt: die Mauer zwischen Leben und Tod. Die Mauer zwischen Mensch und Gott.
“Mein Reich ist nicht von dieser Welt.” Aber es ragt in diese Welt hinein. Überall dort, wo Menschen einander die Hände reichen über Gräben hinweg, die sie trennen. Überall dort, wo der Kreislauf der Gewalt durchbrochen wird und Versöhnung geschieht. Überall dort, wo Menschen sich nicht mit Ungerechtigkeit abfinden, sondern für die Schwachen einstehen.
Das Reich Gottes beginnt jenseits der Mauern, die wir um uns herum errichtet haben. Jenseits der Mauern aus Vorurteilen, aus Ängsten, aus Selbstgerechtigkeit.
Für Pilatus ist dieser Dialog mit Jesus verstörend. Er kommt nicht mit. “Was ist Wahrheit?”, fragt er. Und dann geht er wieder hinaus. Er versteht nicht, was Jesus meint. Er hat keinen Zugang zu dem Reich, von dem Jesus spricht. Er bleibt gefangen in seiner eigenen Welt, in seinem eigenen Denken, in seinen eigenen Maßstäben.
Und so versucht er einen Ausweg zu finden. Er bietet an, Jesus zum Passafest freizulassen. Aber die Menge will Barabbas - einen “Räuber”, wie Johannes schreibt. Im Klartext: einen Terroristen, einen Freiheitskämpfer. Einen, der Gewalt anwendet für seine politischen Ziele. Einen, dessen “Reich” sehr wohl von dieser Welt ist.
Was für eine Ironie: Sie wählen den Kämpfer für ein irdisches Reich und lehnen den König ab, dessen Reich alle irdischen Maßstäbe übersteigt.
Pilatus lässt Jesus daraufhin geißeln. Er lässt ihn schlagen, verspotten, demütigen. Die Soldaten flechten eine Krone aus Dornen, setzen sie Jesus auf, hängen ihm einen purpurroten Mantel um. “Sei gegrüßt, König der Juden!”, rufen sie spöttisch. Und schlagen ihm ins Gesicht.
Und dann dieser Moment: Pilatus führt den geschundenen Jesus nach draußen. Jesus trägt die Dornenkrone, den Purpurmantel, die Zeichen seines Spottes. Und Pilatus zeigt auf ihn und sagt: “Sieh, der Mensch!”
“Der Mensch”: Das ist nicht irgendein Mensch. Das ist der Mensch, wie Gott ihn gemeint hat. Das ist der Mensch, der Mauern überwindet. Das ist der Mensch, der die alte Ordnung der Macht, der Gewalt, der Abgrenzung durchbricht. Das ist der Mensch, der frei ist, weil er nicht nach den Maßstäben dieser Welt fragt. Das ist der Mensch, der nicht herrschen, sondern dienen will - und gerade dadurch zum König wird. Jesus, der Mensch jenseits der Mauern.
Manchmal frage ich mich: Wer bin ich in dieser Geschichte?
Bin ich wie die religiösen Führer, die draußen bleiben und sich nicht verunreinigen wollen? Diese “Hüter der Tradition”, die so sehr auf die äußere Reinheit achten, dass sie das Prätorium nicht betreten - aber gleichzeitig die Hinrichtung eines Unschuldigen fordern. Ich kenne diese Versuchung in mir: Die formale Regel einzuhalten und dabei den Kern der Sache zu verfehlen. Ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich die äußere Geste wahre und den inneren Gehalt vergesse. Wie ich fromm erscheinen will und dabei unbarmherzig bin.
Gerade in unserer Kirche kenne ich das: “Das haben wir immer schon so gemacht.” Wie oft habe ich diesen Satz schon gehört! Es ist bequem, sich hinter Traditionen zu verstecken. Es ist einfacher, an den gewohnten Formen festzuhalten, als sich den unbequemen Fragen zu stellen. Es ist leichter, draußen zu bleiben, als hineinzugehen - in die Lebenswirklichkeit der Menschen, in ihre Fragen, ihre Zweifel, ihre Kämpfe.
Bin ich wie Pilatus, hin- und hergerissen zwischen Wahrheit und Macht? Ich kenne diesen kleinen Pilatus in mir – diese Stimme, die zwischen Erkenntnis und Handeln schwankt. Ich spüre manchmal, was richtig wäre, aber gehe dann doch den politisch klügeren Weg. Pilatus pendelt zwischen drinnen und draußen - ein Bild für seine innere Zerrissenheit. Wie oft pendle ich selbst zwischen verschiedenen Welten, zwischen dem, was ich als wahr erkenne, und dem, was mir opportun erscheint?
Dieser Pilatus in mir - er fragt skeptisch: “Was ist schon Wahrheit?” Nicht aus echtem Interesse, sondern weil die Wahrheit unbequem ist. Weil sie mich in Frage stellt. Weil sie mich dazu auffordert, Position zu beziehen, zu handeln, mich zu engagieren. Und so gehe ich lieber nach draußen, zu den anderen, und wasche meine Hände in Unschuld.
Oder bin ich wie die Menge, die “Barabbas!” schreit, die den Kämpfer will statt den Friedenskönig? Ich kenne auch diese Stimme der Menge in mir, die nach einfachen Lösungen ruft. Ich ertappe mich dabei, wie ich mich lieber für den starken Mann entscheide als für den, der von einem Reich spricht, das anders funktioniert. Wie leicht lasse ich mich von starken Worten beeindrucken, von vermeintlich einfachen Antworten auf komplexe Fragen. Wie schwer fällt es mir manchmal, den mühsameren Weg des Friedens, der Gerechtigkeit, der Versöhnung zu gehen.
Vielleicht bin ich von allem ein bisschen. Und vielleicht liegt genau darin meine Herausforderung: meine eigenen inneren Mauern zu erkennen. Die Mauern meiner Selbstgerechtigkeit, meiner Angst, meiner Anpassung an das, was alle tun.
“Was ist Wahrheit?” fragt Pilatus – und für Johannes geht es hier nicht um philosophische Spekulation, sondern um die Wahrheit, die in Jesus selbst verkörpert ist. Pilatus fragt nicht aus echtem Interesse, sondern aus Abwehr: “Was ist schon Wahrheit?!” Für ihn ist Wahrheit Geschwätz, nichts Handfestes. Für den Evangelisten aber geht es um die tiefe Wahrheit Gottes, die in Jesus offenbar wird, eine existentielle Wahrheit, die paradoxerweise gerade in Niedrigkeit und Leiden aufleuchtet.
“Sieh, der Mensch!” ruft Pilatus, als er den geschundenen Jesus vorführt. Ich frage mich: Was sehe ich, wenn ich auf diesen Jesus blicke? Sehe ich nur einen gescheiterten Wanderprediger? Oder erkenne ich in ihm den wahren Menschen, wie Gott ihn gemeint hat?
“Mein Reich ist nicht von dieser Welt.” Diese Worte klingen in mir nach. Sie laden mich ein, über die Mauern hinauszuschauen. Sie laden mich ein, anders zu denken, anders zu leben, anders zu lieben.
Ich wünsche uns, dass wir in dieser Passionszeit neu entdecken, was es bedeutet, jenseits der Mauern zu leben. Dass wir den Mut finden, die Mauern zu überwinden, die wir um uns herum errichtet haben. Dass wir Menschen werden, die nicht trennen, sondern verbinden. Menschen, die nicht ausgrenzen, sondern einladen. Menschen, die nicht verurteilen, sondern verstehen wollen.
“Sieh, der Mensch!” Das gilt für uns alle. Sehen wir den Menschen im anderen. Sehen wir den Menschen in uns selbst. Sehen wir den wahren Menschen in Jesus Christus, der alle Mauern überwunden hat und uns einlädt, es ihm gleichzutun.
Amen.